Montag, 27. Juni 2016

Pflanzen für taube Ohren

Böse Zungen behaupten, das Beste an Bielefeld sie die Stadtautobahn, Ostwestfalendamm genannt, die möglichst schnell raus aus der Stadt führt. Das stimmt natürlich nicht. Das Beste an Bielefeld ist der felsige Steilhang direkt über besagter Autobahn, welche das Stadtbild nicht eben schöner, aber viel schneller macht. Die Felsen haben überhaupt erst durch den Bau der Straße das Licht der Welt erblickt.


Es ist ein wirklich sehenswerter und botanisch äußerst extravaganter Standort oberhalb der Schnellstraße. Um die Pflanzenschätze gebührend zu würdigen, führt immerhin ein Radweg oberhalb vom Ostwestfalendamm dorthin. Und schon ist man trotz der rasanten Geräuschkulisse der Autos einigermaßen entschleunigt und muss langsam fahren. Jeder nicht ganz der Flora abgeneigte Fahrradfaher sollte aus dem Staunen nicht mehr heraus kommen, wenn Felsklippen aus Kalkstein über ihm emporragen und gespickt sind mit floralen Fundstücken, die man eher am Mittelmeer oder in der Steppe erwartet hätte, aber keinesfalls mitten in Bielefeld auf dem Weg Richtung Gütersloh.

Gut, beim Entdecken dieser bunten Welt muss man sich anschreien wegen des Straßenlärms, aber das ist es wert und trainiert die Stimmbänder. Auch die Goldammer muss sich hier heiser singen, damit ein noch nicht ganz taubes Weibchen den Herrn mit der goldenen Kehle zu ihrem Auserwählten macht.


Den Pflanzen ist der Lärm egal, und so tummeln sich hier im Juni Wolliger Fingerhut (Digitalis lanata), Gelber Fingerhut (Digitalis lutea), Echter Salbei (Salvia officinalis) und auf den Logenplätzen sogar Sempervivum. Immergrünes Felsenblümchen (Draba aizoides), Trauben-Gamander, Frühlings-Fingerkraut, Gemeines Sonnenröschen und Rispen-Flockenblume sind ebenfalls felsenfest überzeugt von dem steilen Standort. Gut, dass sie alle taub sind.

Die Farbauswahl des Wolligen Fingerhuts ist vielleicht eher Siebziger-Jahre-Schick, aber er hat doch dieses gewisse Etwas - er ist ein wirklich hübsches Großmaul. Der Gelbe Fingerhut dagegen gibt sich bescheidener und reißt die Klappe nicht so weit auf.


Einige Laucharten trotzen der Trockenheit auf den Felsen. Im August blüht der kugelrunde Berg-Lauch (Allium lusitanicum) in Massen:


Im Juni blüht eine andere Art mit etwas wirrer Frisur, die ich noch nicht bestimmen konnte - Gekielter Lauch (Allium carinatum) vielleicht?



Einige Exoten sind hier angesät worden, wie der Berg-Sesel, der Raue Alant, die Dach-Hauswurz oder das Neapolitanische Alpenveilchen, aber ich mag diese weitgereiste Vielfalt sehr. Es ist wie ein Urlaub in einer anderen Welt - man muss sich nur das Abrollgeräusch der Autoreifen als Meeresrauschen vorstellen.







Als wäre diese illustre Gesellschaft noch nicht genug, gibt es auch noch Mauereidechsen oben drauf, die sich an den Felsen wohlfühlen und vom Insektenbesuch an den vielen Blumen profitieren.


Es lohnt sich also, die Stadt nicht auf dem schnellsten Wege zu verlassen, sondern auch mal ganz gemächlich eine Ebene höher Richtung Stadtgrenze zu radeln. An den Felsklippen aber lieber das Fahrrad schieben wegen der vielen bunten Blumen und der Eidechsen - auch wenn's dabei was auf die Ohren gibt.


* Und falls jemand weiß, welche Glockenblume ich fotografiert habe, immer her mit der Information - ich brauche Namen!

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Ich freue mich übrigens immer noch wie ein Schneekönig, dass Elisabeth von Tante Malis Gartenblog einen meiner Artikel auf Living-and-Green geteilt hat!

18 Kommentare:

  1. Hallo Elke,
    in Bielefeld habe ich den Botanischen Garten besucht, Unmengen an Weinbergschnecken bewundert und in strömenden Regen die Hermannsläufer erwartet. Wenn ich deinen Bericht damals schon gelesen hätte, wäre B sicher noch interessanter gewesen. Aber immerhin wissen wir, dass es Bielefeld tatsächlich gibt...
    Viele Grüße
    Jo

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  2. Wie gut, dass Blumen nichts hören! So kann man sie in aller Ruhe betrachten...
    Herzlichst
    yase

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  3. sehr interessant, solche felsenpflanzen ... campanula patula ? ;) kann nur in meine bücher nachsuchen * es ist einfacher wenn man wirklich die blume vor sich hat um grösser usw... zu sehen *
    lieber gruss *

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  4. Warum in die Ferne reisen, wenn das gute ist so nah. Vielleicht kann man sich ja eine edle Musik auf die Ohren geben und man ist tatsächlich in einem kleinen Paradies so nah an einer lärmenden Verkehrslawine. Ich finde es schön, wenn es noch Menschen gibt, die genau solche Ecken entdecken und für sie werben. Sehr viele schöne Pflanzenschätze sind dir begegnet und auch noch Tiere .... Vielen Dank fürs Zeigen. Hier auf dem Sofa war es übrigens dann gar nicht laut ... ;-)). LG Marion

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  5. Hallo Elke,
    da hast du ja ein paar schöne Exemplare gesichtet. Ich freue mich auch immer über schöne Wildblumen. Habe schon seit vielen Jahren ein mittlerweile schon ganz abgegriffenens Kosmos Bestimmungsbuch. Könnte deine Glockenblume eine Wiesen Glockenblume (Campanula patula) sein ?
    LG Dagmar

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    1. Die Blätter scheinen gesägt zu sein, sowas habe ich noch nie gesehen. Aber wer weiß, wo diese Glockenblume ursprünglich zuhause ist...
      VG
      Elke

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  6. Since I am free of sight and sound of your freeway traffic

    That makes a fascinating walk, enjoying plants in a happy new suitable habitat.

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  7. Die Natur nimmt solche Plätze wohl sehr gelassen und lässt sich nicht beeindrucken von Lärm und Gestank und das ust gut so!
    Viele Grüße von Margit

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  8. Es ist immer wieder faszinieren, an welchen Standorten sich Pflanzen wohlfühlen. Ich denke mir es auch oft, wenn ich auf der Autobahn unterwegs bin, dass am Rand manchmal recht schöne Blumen wachsen.

    lg kathrin

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  9. Oh Elke, das klingt ja interessant!

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  10. Sehr interessant - du findest immer wieder schöne Themen. Die Seite, die du nennst, kannte ich noch nicht. Man kann ja auch nicht den ganzen Tag vor dem Rechner verbringen. Weiter so!

    Sigrun

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  11. jaja - so brachlandschaften der moderne eröffnen ganz neue möglichkeiten für die frau flora!
    sehe ich jeden tag am bahndamm :-)
    xxxxxx

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  12. Hallo Elke! Ich habe letzte Woche eine ähnliche Glockenblume im botanischen Garten erstanden. Könnte es eine campanula sarmatica sein?
    Die kommt auf felsigem Untergrund gut zurecht. Liebe Grüße von Karin aus SH

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    1. Hallo Karin,
      jaaaa, das sieht ihr wirklich verdammt ähnlich!
      Ich schau mal in unserem bot. Garten. Die Stelle ist davon nicht allzu weit entfernt, vielleicht stammen auch die Samen der Pflanze auf den Felsen ursprünglich von dort.
      VG
      Elke

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  13. wow
    ein Paradies aus 2. Hand..
    toll was sich da angesiedelt hat
    ja die Natur erobert sich ihr Gebiet wieder zurück wenn man sie läßt
    liebe Grüße
    Rosi

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  14. Mit Deinem Beitrag beweist Du, dass Schönheit manchmal doch im Auge des Betrachters liegt Elke!
    Ein wunderbarer Beitrag und jedes Detail ist einfach wunderschön!
    Wie immer hab´ ich dazu gelernt!
    Deine Beiträge sind übrigens "Schuld" an der "Verwilderung" meines Staudenbeetes :-)
    Die vielen Wildstauden und Gräser tun im richtig gut.
    Mein Mann und ich haben es heute wieder betrachtet und für das schönste Staudenbeet bisher gehalten.
    Also auch da danke ich für die vielen Anregungen!
    Viele Grüße von Renate

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  15. So eine tolle Landschaft...sieht ja fast aus, wie ein Felsengebirge in den Alpen. Ich denke, die Glockenblume ist wohl eher was für gut ausgebildete Botaniker...meine wild wachsende in dem Stückchen ungemähte Wiese sieht ja fast genau so aus....:-)
    Die heimische Nelkenart in unserem Bürgergarten, die ich vergessen hatte, ist übrigens eine Pechnelke....das hattest du richtig vermutet.
    LG Sigrun

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  16. Liebe Elke,
    es ist wirklich faszinierend wie sich, egal an welcher Stelle,
    alles mit passenden Pflanzen besiedelt. Das ist ja auch oft in Industriebrachen so - da staunt man. Tolle Bilder!
    Liebe Grüße
    Urte :-)

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