Warum bitteschön sollte man auf der Terrasse Gemüse anbauen, wenn man doch einen Garten mit Bodenhaftung hat? Zum Beispiel wenn man so wie ich keiner Staude lange widerstehen kann, die im mit großen Plänen für Gemüse vorbehaltenen Beet gekeimt hat und mich mit ihren großen Kindchenschema-Keimblättern so flehend anschaut, dass ich sie doch wachsen lasse. Woanders wäre doch auch gar kein Platz für sie, denn dort wuchern bereits andere Stauden. Bald ist also alles voll mit Akeleien, Storchschnabel oder Frauenmantel, nur weil man nicht unbarmherzig zum Pflanzennachwuchs sein möchte.
Und so kommt es dann, dass nur noch die Terrasse als letzte Bastion übrig bleibt, die man noch mit Essbarem ausstatten kann. In echter Bodenhaltung können sich dagegen bestenfalls ausdauernde Genüsse behaupten, wie Wald-Erdbeeren oder Topinambur. Nur der Sitzplatz am Haus aber widersetzt sich bisher standhaft jeder ernsthaften Besiedlung durch Stauden oder Sträucher. Nicht, dass sie es nicht versuchen würden. Der Platz an der warmen Hauswand jedenfalls ist das Reich der wärmeliebenden oder wasserscheuen Vertreter unter dem Küchenpersonal: Hier stehen Tomatenpflanzen im Kübel zusammen mit Chilis, daneben wachsen Kartoffeln im Reissack. Neuerdings versuche ich mich sogar im Anbau von Zuckererbsen und Roter Beete.
Natürlich gibt es auch triftigere und weniger willensschwache Gründe für einen mobilen Gemüsegarten. Kontaminiertes städtisches Erdreich von zweifelhaften Ruf zum Beispiel, welches das Wort Mutterboden nicht verdient hat. Warum auch immer man im Bodenlosen gärtnert, es braucht so einige Tricks, um möglichst viel Köstliches unterzubringen. Um noch mehr darüber zu erfahren, habe ich das "Handbuch Bio-Balkongarten" von Andrea Heistinger und Arche Noah aus dem Ulmer-Verlag gelesen.
Um es gleich vorweg zu nehmen: Der Titel hält nicht, was er verspricht - im positiven Sinne. Hier geht es nicht nur um Balkone mit ein bisschen Schnittlauch im Blumenkasten. Hier geht es um das ganz Große: Das urbane Gärtnern mit allen Problemen und Fallstricken, die es so mit sich bringt - und möglichst noch mit wenig Geld.
Das Buch beschreibt die Widersacher eines jeden städtischen Gemüsefreundes, als da wären Wind, zu hohe Temperaturen inmitten von Beton, eingangs erwähnte dubiose Böden und leicht zu überfordende Statik von Balkonen und Dachterrassen. Welche Pflanzen, welche Materialien lassen sich an exponierten Standorten unterbringen? Woher bekommt man in der Stadt ohne Auto genug Blumenerde? Und wie mischt man sich selbst welche? Es gibt unglaublich viele Tipps zum Verwenden von Recycling-Materialien, sei es als Rankgerüst oder Pflanzgefäß. Die Vor- und Nachteile der Behälter werden ausführlich erläutert. Auch der Stoffkreislauf wird besprochen: Wie kompostiert man auf einem Balkon, wie sammelt man reichlich Regenwasser, und wie bewässert man seine Schätze im Urlaub?
Nachdem der erste Teil mit Theorie besprochen wurde, werden im Mittelteil urbane Gartenprojekte vorgestellt, unter anderem auch das wohl bekannteste in Deutschland: Die Prinzessinnengärten in Berlin (von dort stammen auch die Fotos hier).
Der dritte Teil ist den Pflanzen vorbehalten. Es gibt ausführliche Portraits von geeignetem Gemüse, Obst und Kräutern. Geradezu revolutionär ist die Empfehlung zum jeweiligen Lieblingspflanzgefäß einer jeden Pflanze: Fühlt sie sich im handelsüblichen Balkonkasten wohl oder braucht sie doch lieber viel Auslauf im geräumigen Hochbeet?
Immer wieder kommen die Leser zu Wort und dürfen Tipps und Erfahrungen weitergegen, die allesamt nützlich sind und von einigem Einfallsreichtum zeugen.
Wer ein oberflächliches Buch mit durchgestylten Fotos von lediglich dekorativen Balkonen und Terrassen sehen möchte, der sollte ein anderes Werk zur Hand nehmen. In diesem Buch ist nichts geschönt, aber alles praktisch und lehrreich. Was zählt, ist der Ertrag, weniger die Ästhetik. Dieser Band ist ein Muss für jeden urbanen Gemüsegärtner, ob Einsteiger oder schon fortgeschritten. Und wer schon wirklich alles weiß über das Gärtnern in Kisten, der kann seine Tipps an die Autorin weitergeben, das ist doch auch was.